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Wer wir sind und worauf es ankommt

 

Wir werden in diese Welt hinein geboren, sind zunächst auf die Fürsorge und Führung von Menschen angewiesen, die sie bereits kennengelernt haben. Wir nehmen sie nach und nach in Besitz durch unsere eigenen Beobachtungen und durch das, was uns über sie erzählt wird. Stück für Stück lernen wir, wie sie funktioniert.

 

Wir ziehen bereits als Kinder unsere eigenen Schlussfolgerungen. Wir hören später auch auf das, was die Gesellschaft, Wissenschaft, Politik und andere machtvolle Organisationen über die Welt sagen. Das alles prägt unsere Persönlichkeit und unseren Lebensweg. Wir versuchen, einen Platz zu finden für uns; eine Rolle, die wir ausfüllen können in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht und darüber hinaus in der Gestaltung des persönlichen Lebens.

 

Die Suche nach dem Ich

 

Schon seit den frühen Kindertagen geht es darum, uns anzupassen in der Weise, wie es die gerade vorherrschende gesellschaftliche Struktur und Strömung erfordert. Anpassen heißt, etwas passend machen, also etwas ursprünglich Dagewesenes verändern, etwas verkürzen oder einengen; etwas dehnen, was eigentlich nicht dehnbar ist; etwas beschneiden.

 

Das bedeutet, ein Stück weit, das nicht mehr leben zu können, was unser ursprüngliches Wesen ausmacht, das wir bei der Geburt als in uns liegenden Keim mitbringen und das sich durch die Lebenskraft entfalten will. Verlieren können wir es nicht, aber es kann tief in uns vergraben werden und dort ein kümmerliches Dasein fristen. Wenn dies so ist, meldet es sich irgendwann aus der Tiefe – oft in der Lebensmitte. Es meldet sich entweder leise, jedoch ausdauernd, eventuell durch eine allgemeine, dumpfe Unzufriedenheit, oder heftig in Form einer seelischen Krise. Dann geht es absolut darum, zu erkennen, worauf es im Leben ankommt. Besser ist es natürlich, darum zu wissen, bevor „das Kind in den Brunnen gefallen“ ist.

 

Der Mensch trägt in sich eine tiefe Sehnsucht, sein zu dürfen, wie er ist; den Raum zu haben, dieses entfalten und zum Ausdruck bringen zu können ohne auf Ablehnung zu stoßen. Der wissenschaftliche Begriff der Psychologie für diesen Entfaltungsprozess ist ‚Selbstaktualisierungstendenz‘.

 

Sinn ist lebensnotwendig

 

Eine für einen jeden von uns lebensnotwendige Tatsache ist, dass wir Sinn empfinden müssen, auch wenn uns das in guten Zeiten kaum bewusst ist. Deutlich wird es, wenn wir einmal gezielt darauf achten, wie häufig wir täglich die Formulierungen „das macht Sinn“ oder „das macht keinen Sinn“ gebrauchen. Jeden Tag machen wir mehrmals folgende Aussagen: „Ich finde es sinnvoll, dass… Es hat doch keinen Sinn. Ich weiß nicht, ob das Sinn macht. Es muss für mich schon Sinn haben, damit …“ Oder auch: “Es ist total unsinnig oder sinnlos, dass…” und weitere Sätze dieser Art.

 

Bei genauer Betrachtung sind sie nicht nur beiläufige Redewendungen und grammatikalische Satzausschmückungen, sondern sie sind ein wichtiges Mittel zur Entscheidungsfindung und somit zur Bestimmung der Richtung unseres Lebensweges. Denn: Der Mensch lebt von Entscheidung zu Entscheidung bis ins kleinste Detail. Allein schon die Alternative zwischen aufstehen oder sitzenbleiben bedarf einer Entscheidung. Entscheidungen sind der Auslöser von Handlungen und bringen dadurch Leben in Bewegung. Sie richten sich nach dem Sinn, den das Ergebnis für uns hat.

 

Ist kein Sinn mehr erkennbar, wird das Sinnempfinden frustriert, fühlt sich der Mensch verunsichert. Er verliert zunehmend den inneren Halt. Man kann die Sinnsuche drei Ebenen zuordnen: Die erste stellt sich so dar: Solange wir wissen, welche Ziele wir haben und was wir leisten können, wenn wir uns sicher fühlen, dass die Dinge so funktionieren, wie wir uns das vorstellen, solange fällt uns nicht auf, dass wir auf der Basis der Sinnfrage Entscheidungen treffen. Das Leben scheint ganz selbstverständlich zu fließen, ganz von alleine.

 

Stärker an die Oberfläche tritt die Frage nach Sinn auf der zweiten Ebene und hier wird sie ganz bewusst gestellt, nämlich dann, wenn es um einschneidende, den Weg gravierend verändernde Lebensentscheidungen geht wie z. B. Berufswahl, Wohnortwechsel, Heirat. Insbesondere auch dann wird sie gestellt, wenn Blockaden im Leben auftreten; wenn schwierige Ereignisse den freien Fluss des Lebens blockieren, also bei Grenzsituationen wie z. B. bei schwerer Krankheit, Tod und Trennung von geliebten Menschen, Arbeitsplatzverlust; oder auch bei schwierigen, lang anhaltende Problematiken mit Mitmenschen.

 

Allerdings gibt es auch die Tatsache, dass Menschen nach Sinn fragen – oder andersherum gesagt – an einem Sinnlosigkeitsgefühl leiden, die im materiellen Bereich alles haben: Einen stabilen Beruf, sichere finanzielle Verhältnisse, Gesundheit, eine funktionierende Partnerschaft, eine gesunde Familie; die somit eigentlich wunschlos glücklich sein müssten. In diesen Fällen liegt der Grund für eine Sinnkrise darin, dass diese Gruppe von Menschen Werte verwirklicht, die vom Umfeld her zwar als erstrebenswert bezeichnet werden, die sozial gängig und akzeptiert, ja auch prestigeträchtig sind. Sie spüren jedoch irgendwann tief in ihrem Inneren, dass dieser Weg eigentlich nicht mit dem übereinstimmt, was sie für sich selbst tatsächlich für wichtig empfinden. Etwas Wesentliches in ihnen scheint übergangen zu werden.

 

Es kann auch sein, dass in jungen Jahren aus mangelnder Selbstkenntnis ein Lebensweg eingeschlagen wird, der dann nicht mehr passt, wenn sich die wesentlichen Anteile aus dem Inneren plötzlich zu Wort melden. Wiederum andere Menschen können ein Sinnlosigkeitsgefühl nicht direkt ausdrücken, weil sie es selbst nicht als solches erkennen können. Sie fühlen sich häufig müde, erschöpft, unausgeglichen, gereizt, obwohl sie genug, ja manchmal sogar zu viel schlafen, und sich auch gesund ernähren.

 

Nicht Wenige kompensieren ein unbewusstes Sinnlosigkeitsgefühl mit einer Sucht, in welcher Erscheinungsform auch immer oder sie entwickeln eine Depression. Bei Sucht brauchen wir nicht gleich an Alkoholismus und harte Drogen zu denken. Im Prinzip kann alles zur Sucht werden, z. B.: Kaffee, rauchen, arbeiten, fernsehen, in der Freizeit ständig auf Achse sein, Internet, Sport, einkaufen etc. Auf körperlicher Ebene kann sich ein Mangel an Sinnerfüllung in Form von psychosomatischen Erkrankungen zeigen, also Erkrankungen, die zwar Symptome zeigen, für die die Ärzte jedoch keine körperlichen Ursachen finden können.

 

Auf dieser zweiten Ebene der Sinnfrage Antworten zu finden, ist oftmals nicht leicht, ja, manchmal sogar ausgesprochen schwer; manchmal auch deshalb, weil verschiedene Ziele, die uns gleich wichtig sind, im Widerspruch stehen können. Hier muss ein Werte-Konflikt ausgetragen werden.

 

Ab und zu scheinen Lösungen auch überhaupt nicht erkennbar zu sein, sodass es zu Verzweiflung bzw. zu einer regelrechten Sinnkrise kommen kann. Hier ist dann Unterstützung von außen wichtig, indem andere Mensch mithelfen nach Sinn zu suchen; seien es Freunde, Familienangehörige oder auch Therapeuten.

 

Die dritte Ebene der Sinnsuche ist die Suche nach einem übergeordneten Lebenssinn. Sie teilt sich nochmals in zwei Fragen auf: Was ist der Sinn meines gesamten persönlichen Lebens?
· Was ist der Sinn von Leben überhaupt, von dieser Welt, dem Universum, von allem, das existiert?

 

Die Beantwortung der zweiten dieser beiden Fragen ist am Wenigsten möglich. Sie ist letztlich dem Bereich von Glauben zuzuordnen. Mögliche persönliche Antworten für diese Frage lassen sich am ehesten finden und erfahren im Bereich der Religionen, spirituellen Schulen oder auch in der Philosophie.

 

Für die erste Frage der beiden “Was ist der Sinn meines gesamten ganz persönlichen Lebens?” kann möglicherweise am Lebensende ein roter Faden entdeckt werden, den man als Lebens-Sinn bezeichnen könnte. Wenige Menschen haben das Glück, schon in frühen Jahren davon überzeugt zu sein, ihn gefunden zu haben in Form einer Berufung, für die sie sich mit Leib und Seele engagieren.

 

Worauf kommt es noch an, damit uns unser Leben so weit wie möglich gelingen kann, so, dass wir es als sinnvoll empfinden?

 

Neben der Sinnfrage treibt den Menschen die Suche danach um, wer und was er wirklich ist, die Suche nach seinem Wesenskern:
In jedem Menschen lebt ein ursprüngliches Bild seiner selbst, das darauf wartet, gelebt zu werden. Um Stabilität und Zufriedenheit im Leben zu finden, ist es notwendig dieses Bild zu erkennen und ihm soweit wie möglich Raum zur Entfaltung zu geben.

 

Ein nüchternes Wort dafür ist Identitätsfindung. Das ursprüngliche Bild meint jedoch mehr als die gesellschaftliche Identität, mehr als die Rollen, die wir in der Gesellschaft übernehmen. Es geht darum, unabhängig von allen äußeren Ansprüche und Normen um sich selbst zu wissen: Um den eigenen Körper, um die eigene Seele, um den eigenen Geist und um ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten.

 

Das ist das, was das Wort Selbsterkenntnis meint, auf deren Basis eine authentische Selbstentfaltung stattfinden kann. Selbstentfaltung ist zu verstehen als möglichst umfassende Verwirklichung dessen, was unser Wesen ausmacht; eine Selbstverwirklichung, ohne die Grenzen anderer zu verletzen.

 

Es ist die Aufgabe der Eltern, ihre Kinder daraufhin zu beobachten, welche individuellen Anlagen sich im Laufe des Wachstums zeigen, die Kinder entsprechend dieser Anlagen zu fördern und nicht unbedingt entsprechend gerade gegebener Trends und Normen.

 

Selbstverständlich sind in einem gewissen Umfang Anpassungen an die Vorgaben der Gesellschaft notwendig. Oftmals jedoch unterliegen Eltern zu sehr deren Diktat und auch unerkannten Mängeln der Erziehung, die sie selbst genossen haben. So entstehen möglicherweise Verzerrungen der ursprünglichen Persönlichkeit des Kindes, die im späteren Leben zu Schwierigkeiten führen können. Dann gilt es, das ursprüngliche Bild wieder zu finden und zu befreien, um eine gesunde Balance zu finden zwischen inneren Bedürfnissen und äußeren Anforderungen.

 

Es ist eine große Herausforderung in der heutigen Komplexität des täglichen Lebens, Kinder so ins Leben zu führen, dass grundlegende menschliche Bedürfnisse nicht durch die gesellschaftlichen Vorgaben auf der Strecke bleiben.

 

Veränderung als stetige Komponente

 

Zu bedenken ist auch, dass die äußere Welt sich ständig verändert. Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen seelisches Leben abläuft, ändern sich in ihrer Grundstruktur jedoch nicht. Es entsteht dabei die Gefahr, dass die Kluft zwischen äußeren Anforderungen und inneren Bedürfnissen immer größer wird, je mehr Sachzwänge der seelischen Struktur zuwider laufen. Daraus resultieren vielfältige Beschwerden körperlicher und psychischer Art. Deswegen ist es so wichtig, sich selbst gut zu kennen und in einer guten Beziehung dazu zu stehen, um dadurch einen stabilen inneren Standort zu haben, von dem aus wir bewusst Stellung nehmen und klare Entscheidungen treffen können in Bezug auf das, was aus der Außenwelt auf uns zukommt. Die innere Standfestigkeit verhindert es, zu schnell zu viel Energie zu verlieren.

 

Darüber hinaus müssen wir akzeptieren, dass uns vom Leben grundsätzlich auch Begrenzungen auferlegt werden, sodass es uns nicht immer möglich ist, jeden Traum, jede Idee und Vision zu verwirklichen. Auch hierbei ist es wichtig, unser ursprüngliches Bild zu kennen und es zu lieben, so wie wir auch andere Menschen lieben. Im Bewusstsein eines klaren Selbstbildes befinden wir uns in unserer Stärke und können nicht nur mit Zuständen versöhnlicher umgehen, die uns belasten, sondern auch mit solchen, die unabänderlich sind, ohne das Gefühl für den eigenen Wert zu verlieren.

 

Jeder Mensch ist ein Geheimnis

 

Jeder Mensch ist ein Geheimnis, ein Mysterium. Wir können einen anderen Menschen nie vollständig verstehen und begreifen, genauso wenig uns selbst. Somit kann es beim Erkennen des ursprünglichen Bildes allein um eine bestmögliche Annäherung gehen. Ein inneres Gefühl der Evidenz, der Richtigkeit, zeigt uns, dass wir nahe dabei sind. Das macht es möglich, uns als eine Einheit in uns selbst zu erleben, ohne innere Konflikte uns selbst gegenüber.

 

Wir können uns empfinden als König auf dem Thron des Reiches, das da „Unser ganz persönliches Leben“ heißt. Ein anderes Wort für ‚König‘ lautet ‚Souverän‘. König in seinem Leben zu sein bedeutet, souverän sein Leben selbst zu führen und sich nicht führen zu lassen. Die Chance, Ziele zu erreichen, ist am ehesten dem gegeben, der sein Leben selbst führt. Wer sich führen lässt – von der Umgebung, von eigenen ungeklärten Emotionen und Wünschen – wird oft dorthin geführt, wohin er nicht will.

 

Als Regent bin ich frei, insbesondere innerlich frei, trage aber auch Verantwortung für mein Reich. Deshalb bestimme ich die Werte und Regeln, die mir wichtig sind, um gut für mich selbst zu sorgen. 

 

Weitere Aspekte, auf die es ankommt, sind:

:  Ehrlich zu sich selber zu sein, nicht vor sich selbst wegzulaufen und Unangenehmes nicht zu verdrängen.

 

: Bereit zu sein, Konflikte zu riskieren, wenn es darauf ankommt. Konflikte sind nicht nur als negativ zu anzusehen. Sie fordern dazu
  heraus, Klärung zu schaffen, Stillstand aufzulösen und somit insgesamt das Leben voranzubringen.

 
: Das ursprüngliche Bild in sich zu lieben bedeutet im Besonderen, sich mit gütigen Augen zu betrachten und geduldig mit sich zu sein,
  realistisch nicht zu viel und nicht zu wenig von sich zu erwarten.


: Wer das Hauptsächliche, Wesentliche und Wichtige in den Dingen und Situationen sucht, kann leichter Prioritäten setzen und das
   loslassen, was er oft unbewusst als unnötigen Ballast mit sich schleppt.


: Die einfachen Dinge des Lebens zu beachten, lässt deren Wert und Sinn erkennen. Das bestärkt insgesamt ein Gefühl der
  Sinnhaftigkeit in Bezug auf das gesamte Leben und erweckt Dankbarkeit, die einer der größten Kraftspender ist, die es im Leben gibt.


:  Neben dem Bedürfnis nach Selbstentfaltung liegt in uns auch ein tiefes Gefühl, dass sich unser Leben nur dann erfüllt, wenn wir nicht
   nur uns selbst, sondern auch anderes Leben im Blick haben. Angenommen, geliebt und glücklich zu sein, ist das Grundstreben aller
   Menschen. Hierin sind wir alle miteinander verbunden. Es erweckt die Motivation, auf andere Menschen zuzugehen, sich für sie zu
   interessieren und einzusetzen. Wir lernen voneinander und können uns über die Anderen auch selbst in unserer Identität erfahren.
   Und es ist die Grundlage für Mitgefühl, das die Verbundenheit deutlich werden läßt und bestärkt.
   Ebenso die interessierte, achtungsvolle Zuwendung zu Tieren und zur gesamten Natur erzeugt ein Sinnempfinden und trägt damit zu
   einem befriedigenden Lebensgefühl bei.

 

© Ruth Scheftschik